Neugierige Pioniere schaffen Innovation

Forschende, die aus reinem Interesse ins Unbekannte vorstossen, liefern die Basis für die Wissensgesellschaft. Der Nutzen dieser Grundlagenforschung ist aber oft kaum oder erst nach längerer Zeit ersichtlich. Wie gross und konkret er sein kann, zeigen drei Beispiele von SNF-Projekten.

Jahr für Jahr investiert der SNF Hunderte von Millionen Franken in die Grundlagenforschung. In Experimente und Untersuchungen, die von Neugierde getrieben sind. In Projekte, deren unmittelbarer gesellschaftlicher Nutzen sich nicht planen lässt, die aber von unschätzbarer Bedeutung sind. Angelika Kalt, Direktorin des SNF: «Forscherinnen und Forscher, die ihrem Wissensdurst nachgehen können, betreten ständig Neuland. Sie liefern die Basis für Innovationen und neue Technologien – und damit für unsere Wissensgesellschaft. »

Manche Erkenntnisse entfalten ihre Wirkung erst in Jahren. Andere führen schnell und direkt zu konkreten Anwendungen. «Am Anfang steht aber immer dasselbe: Eine kluge Frage und Forscherinnen und Forscher, welche diese mit Hingabe zu beantworten versuchen», so Angelika Kalt.

«Begonnen hat alles, weil wir eine grundlegende wissenschaftliche Frage auf ungewohnte Weise angingen.»

Tej Tadi, Elektroingenieur und Neurowissenschaftler, Gründer und CEO von MindMaze

Von der Sinnestäuschung zur Therapie

Ein eindrückliches Beispiel hierfür ist das SNF-Projekt des Neurologen Olaf Blanke an der ETH Lausanne. Basierend auf seiner Arbeit zu ausserkörperlichen Erlebnissen erforschte er ab 2005, welche sensorischen Signale die Wahrnehmung des eigenen Körpers steuern. Um die beteiligten Hirnregionen zu entdecken, schufen Blanke und sein Team eine neuartige Versuchsanordnung: Sie zeigten Testpersonen auf einer am Kopf angebrachten Vorrichtung eine Projektion des eigenen Körpers – und erzeugten so einen Konflikt zwischen dem Ort, wo man sich sieht, und jenem, wo man sich fühlt. Tatsächlich erlebten die Testpersonen den virtuellen Körper und dessen Position im Raum als ihren eigenen.

Tej Tadi, damals als Elektroingenieur am Projekt mitarbeitend, sah sofort die medizinischen Möglichkeiten. «Die Täuschung aktivierte bestimmte Hirnregionen», erklärt er. «Wir konnten also mittels virtueller Realität echte Reaktionen auslösen.» Die Erkenntnis inspirierte Tej Tadi zur Gründung der Firma MindMaze. Diese entwickelte eine auf virtueller Realität basierende Technologie zur neuromotorischen Rehabilitation von Hirnschlag- oder Unfallpatienten. 2017 erteilte die amerikanische Gesundheitsbehörde FDA der Technologie die Zulassung; seither kommt sie in Spitälern in mehreren Ländern – darunter der Schweiz – zum Einsatz. Und bescherte MindMaze einen Börsenwert von über 1 Milliarde Dollar. Zurzeit verfügt das Unternehmen über Standorte in Lausanne, Zürich und San Francisco. Es arbeitet an neuen Mensch-Maschine-Schnittstellen, die die Medizin ebenso wie die Computerspiel- und die Transportbranche verändern sollen. «Im Erfolg von MindMaze steckt viel Arbeit», so Tej Tadi, «begonnen aber hat alles, weil wir eine grundlegende wissenschaftliche Frage auf ungewohnte Weise angingen.»

«Die klaren Resultate bewogen mich, über eine praktische Anwendung nachzudenken.»

Veronika Brandstätter, Psychologin, Universität Zürich

Andere Frage – neue Möglichkeiten

Auch Veronika Brandstätter, Professorin für Psychologie an der Universität Zürich, beschritt mit ihrem SNF-Projekt neue Wege. Während die Motivationspsychologie sich lange Zeit darauf konzentrierte, was Menschen bei der Verfolgung ihrer Ziele unterstützt, fragte Veronika Brandstätter: Was geht vor, wenn sich Menschen von einmal gesetzten Zielen zu lösen beginnen? Sie untersuchte diesen Prozess mit einer Kombination aus Laborexperimenten und Feldstudien.

So beobachtete ihr Team Personen, die an einem Ziel – zum Beispiel einem angestrebten Studienabschluss – zweifeln. Deren Gedanken verglich es mit jenen von Personen mit dem gleichen Ziel, bei denen alles wunschgemäss verläuft. «Wir stellten fest, dass sich Menschen ab einem gewissen Punkt des Zweifelns sehr stark mit Kosten-Nutzen-Überlegungen beschäftigen – und damit die für das Handeln günstige Bewusstseinslage ausser Kraft setzen», so Veronika Brandstätter. Dieses Muster bestätigte sich unter anderem bei der Befragung von Marathonläufern, die schilderten, wie sie auf den letzten zehn Kilometern zwischen Aufgeben und Weitermachen entscheiden. Es zeigte sich zudem, dass Zweifel die Leistungsfähigkeit nachhaltig beeinträchtigen.

«Die klaren Resultate bewogen mich, über eine praktische Anwendung nachzudenken », sagt Veronika Brandstätter. Denn oft sei es durchaus sinnvoll, ein Ziel wieder aufzugeben. Nämlich dann, wenn sich dieses als kaum erreichbar erweise. Brandstätters Arbeit bildet mittlerweile einen festen Bestandteil des Zürcher Ressourcenmodells von Krause und Storch, einer der erfolgreichsten Selbstmanagement-Methoden, die unter anderem in der Lehrerbildung, in Coachings für Manager und in der Jugendarbeit zum Einsatz kommt.

«Die grosse Revolution ist bisher ausgeblieben – doch die Farbstoffsolarzelle hat einen ganzen Forschungszweig befeuert.»

Michael Grätzel, Chemiker, ETH Lausanne

Auf der Jagd nach dem Durchbruch

Ebenfalls grossen Einfluss entfaltet die vom SNF geförderte Arbeit von Michael Grätzel, Professor für Physikalische Chemie an der ETH Lausanne. Er beschäftigte sich Ende der Siebzigerjahre mit der Frage, wie sich Lichtenergie in elektrische Energie umwandeln lässt. Aufbauend auf viel Grundlagenarbeit entstand Anfang der Neunzigerjahre die Grätzel-Zelle: eine Solarzelle, die nach dem Vorbild der pflanzlichen Photosynthese natürliche Farbstoffe zur Energiegewinnung verwendet. Das Prinzip bietet grosse Vorteile gegenüber herkömmlichen Silizium-Solarzellen: Die Herstellungskosten sind tiefer und die verwendeten Materialien umweltfreundlicher. Allerdings erreichen Grätzel-Zellen im vollen Sonnenlicht bisher noch geringere Wirkungsgrade – arbeiten jedoch bei diffusem Tageslicht oder künstlichen Lichtquellen effizienter. Und nicht zuletzt wegen ihres attraktiven Aussehens ist ein Markt dafür entstanden.

«Die grosse Revolution im Solarbereich ist zwar bisher ausgeblieben», sagt Grätzel, «doch hat die Farbstoffsolarzelle einen ganzen Forschungszweig befeuert. Es wird auf der Anwendungsseite viel geschehen in den kommenden Jahren.» Tatsächlich ist seine Arbeit der Ausgangspunkt für den derzeitigen Entwicklungsboom bei der Solarenergie. Dieser baut auf dem Prinzip der Grätzel-Zelle auf. Das Licht wird aber mittlerweile statt von Farbstoffen von organisch-anorganischen Halbleitern, sogenannten Perowskiten, eingefangen. Die Wirkungsgrade im Labor sind jenen von Siliziumzellen bereits ebenbürtig. Und bei der Entwicklung wieder weit vorne mit dabei: Michael Grätzel. «So ist das manchmal mit der Forschung», lacht er, «vor dreissig Jahren habe ich ohne jeglichen Druck an den Grundlagen herumgetüftelt, heute jage ich gleichzeitig mit Tausenden anderer den grossen Durchbruch in der Anwendung.»