«Wir brauchen mehr Freude und weniger Hamsterrad»

Anfang 2017 hat Matthias Egger Martin Vetterli an der Spitze des SNF abgelöst. Beide sind sich einig: Der SNF muss die Open-Science- Politik weiterverfolgen – und der akademische Nachwuchs braucht bessere Karriereaussichten.

Herr Vetterli, wie fällt Ihre persönliche Bilanz aus?

Martin Vetterli (MV): Ich bereue keine Minute: Ich habe beim SNF fantastische und interessante Erfahrungen gemacht. Erstens habe ich das gesamte Spektrum der Forschung kennengelernt, auch die Philosophie und die Soziologie der Wissenschaft. Und zweitens habe ich realisiert, dass Bern zwar bekannt ist für seine Langsamkeit, aber sehr schnell sein kann, wenn es nötig ist. Als der SNF nach der Annahme der Masseneinwanderungsinitiative 2014 sogleich die Temporary Backup Schemes aus dem Boden gestampft hat, traute Brüssel seinen Augen nicht. Damit hat dort niemand gerechnet.

Aber der SNF war Ihnen nicht immer schnell genug.

MV: Ja, bei Open Access sind wir aus meiner Sicht etwas gemächlich vorwärts gegangen, aber der SNF ist auf dem Feld der Open Science natürlich auch nicht der einzige Player...

Matthias Egger (ME): ...der SNF muss auf diesem Gebiet zu Ende führen, was Martin Vetterli eingeleitet hat. In einigen Jahren sollten alle vom SNF geförderten Publikationen öffentlich zugänglich sein sowie alle Daten, die mit Steuergeldern erhoben wurden.

Herr Egger, was motiviert Sie, den Job als Forschungsratspräsident anzutreten?

ME: Zunächst: Ich freue mich auf die neue Aufgabe und bin dankbar für die Wahl. Ich glaube, dass ich mit meinem Engagement für den Wert, die Integrität und die Offenheit der Wissenschaft eine Vision mitbringe, die den Nationalfonds weiterbringt...

MV: ...ich begrüsse sehr, dass Matthias gewählt wurde. Wir kommen aus verschiedenen Disziplinen, aber wir denken ähnlich.

Das Verhältnis der Schweiz zur EU ist nicht unbelastet. Was wäre, wenn der Forschungsplatz Schweiz die Verbindungen zu Europa verlieren würde?

ME: Das wäre eine Katastrophe.

MV: Es ist wie mit der Klimaerwärmung: Man sieht sie nicht sogleich, aber auf lange Sicht werden wir alle gekocht. Die nachteiligen Auswirkungen sind augenfällig: Forschende aus dem Ausland, die sich für hiesige Hochschulen interessieren, fragen zuerst: Welche Beziehung unterhält die Schweiz zu Europa, haben wir Zugang zu ERC-Geldern? Die Position der Schweiz als offener, internationaler und kompetitiver Forschungsstandort ist nach wie vor angegriffen. Ich hoffe, dass mit der Ende letzten Jahres vom Parlament verabschiedeten Umsetzung der Masseneinwanderungsinitiative und unserer damit möglichen Teilnahme an Horizon 2020 nun für längere Zeit etwas Ruhe einkehrt.

ME: Was in der Schweiz passiert ist, geschieht auch in Grossbritannien mit dem Brexit. Der Forschungsplatz verliert schnell an Attraktivität, und es wird schwierig, gute Leute zu rekrutieren oder zu halten.

Herr Vetterli, Sie haben wiederholt von der Krise der Wissenschaft gesprochen, Stichworte Nicht-Replizierbarkeit der Experimente und Anzahl Publikationen...

MV: ...ich habe die Wissenschaft nicht kritisiert. Ich sage: Wir müssen die Art und Weise, wie wir Wissenschaft betreiben, neu erfinden.

ME: Das sehe ich genauso. Die Publikationspraxis wird stark von den Resultaten beeinflusst: Negative Resultate sind auch wichtig, werden aber oft nicht publiziert. Und Quantität geht vor Qualität.

Was muss der SNF tun?

ME: Der SNF hat die DORA-Deklaration unterzeichnet, die eine Reihe von Empfehlungen zur besseren Bewertung von wissenschaftlichem Output enthält. Das ist ein Schritt in die richtige Richtung. Meine Aufgabe ist nun, diese Richtlinien zu implementieren und zu konkretisieren. Es wird nicht einfach werden.

Matthias Egger

Seit Anfang 2017 ist Matthias Egger Präsident des Nationalen Forschungsrats. Er ist Professor für Epidemiologie und Public Health; von 2002 bis 2016 stand er dem Institut für Sozial- und Präventivmedizin der Universität Bern vor. Seit 2009 ist er Mitglied des Nationalen Forschungsrats und somit bestens mit der Schweizer Forschungspolitik vertraut. Einen Grossteil seiner Karriere durchlief Egger in England am University College London und an der Universität Bristol.

Mit welchen Widerständen rechnen Sie?

ME: Wir werden einen Konsens finden müssen: Die Biomedizin und die Sozialwissenschaften etwa müssen sich darauf einigen, welche Kriterien zur Bemessung von Exzellenz künftig gelten sollen.

MV: Ich sehe mehr und mehr junge brillante Leute, die das Spiel der Wissenschaft nicht mehr mitmachen. Als ich jung war, bewunderte ich den Tempel der Wissenschaft, ich dachte, Wissenschaft ist das Beste, was man tun kann. Heute beäugen viele Junge die Art und Weise, wie die Wissenschaft funktioniert, skeptisch. Wenn wir diese kritisch denkenden Leute verlieren und nur Gameplayers, die nicht weiter hinterfragen, übrig bleiben, ist das fatal.

ME: Statt eine riesige Publikationsliste zu verlangen, sollte der SNF fragen: Was sind Ihre besten fünf Publikationen?

MV: Wir müssen zurück zur Qualität, es ist trivial. Aber es bedingt einen Kulturwandel.

Was heisst das für die Nachwuchsförderung?

MV: Die Nachwuchsförderung ist die grösste Herausforderung. Der SNF hat mit Ambizione die Richtung vorgegeben, aber der Effekt ist nicht gross genug. Die Hochschulen stehen in der Pflicht, sie müssen mehr tun. Der Nachwuchs braucht bessere Arbeitsbedingungen. Wenn Sie ordentliche Professorinnen oder Professoren darauf ansprechen, sagen ihnen diese: Alles ist in Ordnung. Kennen Sie diese Anekdote? Louis XVI notierte am 14. Juli 1789 in Versailles in sein Journal unter der Rubrik Ereignisse: «Nichts».

Was also müssen die Hochschulen tun, damit der Nachwuchs nicht plötzlich die Professorenbüros stürmt?

MV: Sie müssen die Ordinariate reformieren und mehr Tenure Tracks einführen. Wir brauchen frische Luft von unten.

ME: Ich bin als Professor des Instituts für Sozial- und Präventivmedizin, das ich vierzehn Jahre geleitet habe, zurückgetreten, um jemand Jüngerem Platz zu machen und eine Chance zu geben. Aber um den Blick zu weiten: Ich möchte im SNF eine evidenzbasierte, wissenschaftliche Forschungsförderung einrichten. Wir haben wenige Daten über die Leute, die gefördert worden sind. Wir brauchen eine Longitudinalstudie, damit wir besser verstehen, wieso hoffnungsvolle Leute ausscheiden. Mit solchen Daten könnten wir auch gegenüber der Politik besser argumentieren und bessere Lösungen formulieren.

Das Monitoring soll helfen, die richtigen Leute zu ermuntern, die wissenschaftliche Laufbahn einzuschlagen?

ME: Ja, das hoffe ich. Wir müssen die Bedingungen ändern, damit die Forschung attraktiver wird. Wir brauchen mehr Freude und weniger Hamsterrad. Und ich freue mich, mit Martin Vetterli einen Partner an der EPFL zu haben, der auch so denkt.

Martin Vetterli

Martin Vetterli präsidierte den Nationalen Forschungsrat von 2013 bis Ende 2016. Der Elektroingenieur wirkte an der Columbia University in New York und der University of California in Berkeley, bevor er 1995 an die ETH Lausanne (EPFL) berufen wurde. Von 2011 bis 2012 war er Dekan der School of Computer and Communication Sciences der EPFL, wo er weiterhin ein Forschungsteam leitet. Anfang 2017 hat Vetterli das Präsidium der EPFL von Patrick Aebischer übernommen. Er gilt als Vorreiter der Open-Science-Politik.