«Die Welt braucht die GSW dringender denn je»

Die Historikerin und Forschungsrätin Madeleine Herren-Oesch sieht die Gefahr, dass sich Gesellschaft und Politik vom wissensbasierten Handeln entfernen. Als ein Gegenmittel plädiert sie für die Stärkung der Geistes- und Sozialwissenschaften (GSW) und für eine globale Forschungspolitik der Schweiz.

Frau Herren-Oesch, die EU steckt viel Geld in die Forschungsförderung. Sind diese Mittel nicht eine interessante Finanzierungsquelle für Forschende der Geistes- und Sozialwissenschaften?

Lange war die Forschungsförderung der EU technologielastig, und die GSW übernahmen die Aufgabe der gesellschaftspolitischen Technologiefolgeabschätzung, gaben aber weder die Fragestellungen vor noch prägten sie das Forschungsdesign. Die schwache Stellung der GSW auf europäischer Ebene rührt daher und ist ein strukturelles Problem.

Erkennt das die Forschungsförderung der EU?

Ich hoffe es. Die Erkenntnis, dass die GSW nicht das Problem sind, sondern vielmehr Lösungen für gesellschaftliche Probleme anbieten, setzt sich allmählich durch. Die Flüchtlingsproblematik, der Brexit und die US-amerikanischen Wahlen haben 2016 zu einem Jahr des besorgniserregenden Auseinanderdriftens von Politik und wissensbasierter Entscheidungsfindung gemacht. Die GSW können mit ihren die Disziplinen übergreifenden Forschungen diesen Prozess analysieren, zum Verständnis der Notwendigkeit eines gebildeten und global vernetzten Europas beitragen und den Umgang mit Diversität kritisch reflektieren.

Welche Rolle kommt hier dem SNF zu?

Sein Spielraum ist determiniert durch das Verhältnis der Schweiz zur EU. Gerade darum sollte der Forschungsplatz Schweiz sich nicht nur auf die EU-Forschungsprogramme fixieren, zumal die globale Vernetzung Europas eine zunehmende Herausforderung darstellt. Mein Traum ist, dass die Schweiz sich als globaler akademischer Hub etabliert. Dieser fördert die Forschung als wertvolles öffentliches Gut und hilft der Gesellschaft, ein globales Problembewusstsein zu entwickeln.

Der SNF fordert die Geistes- und Sozialwissenschafter in der Schweiz auf, sich vermehrt beim European Research Council um Förderungsgelder zu bewerben...

...das ist eine wichtige Botschaft! Und um diese zu unterstützen, können sich Frauen, deren Gesuch vom ERC in der zweiten Runde abgelehnt wird, mit ihrem Projekt beim SNF unter erleichterten Bedingungen bewerben. Die Bewerbung beim ERC ist administrativ aufwendig, aber ERC Grants sind bedeutend und werden vom SNF befürwortet. Ich bin zuversichtlich, dass für die GSW eine bessere Zeit anbricht. Die Welt des 21. Jahrhunderts braucht die GSW dringender denn je.

Vielseitig interessierte Historikerin

Madeleine Herren-Oesch ist Professorin für Neuere Geschichte, Direktorin des Europainstituts Basel, einer Forschungsinstitution der Universität Basel, und Mitglied des Forschungsrats der Abteilung Geistes- und Sozialwissenschaften des SNF. Ihre besonderen Interessen gelten der Globalgeschichte Europas, der europäischen Expansion und Integration, transnationalen Bewegungen sowie den Methoden und Theorien der Geschichtswissenschaft.